Die Geschichte der Manuellen Medizin

Vor 11,62 Millionen Jahre soll es der Menschenaffe Danuvius guggenmosi, genannt „Udo“, gewesen sein, der zumindest zeitweise auf zwei Beinen durch das Unterallgäu gestreift ist. Bis dahin ging man davon aus, dass sich unsere Vorfahren erstmals vor ca. 6 Millionen Jahren auf Kreta und in Kenia auf ihre Hinterbeine stellten[1].

Und damit ihre Hände frei hatten für Anderes. Zum Beispiel den schmerzenden Rücken ihrer Artgenossen zu massieren.

Auch wenn wir nur vermuten können, dass auch der Neandertaler schon manualtherapeutische Behandlungsverfahren kannte, finden sich doch tatsächlich auf Höhlenzeichnungen Hinweise auf erste prähistorische manuelle Behandlungen geben, was gut vorstellbar erscheint, denn mit der nun s-förmig geschwungenen Wirbelsäule gingen vermutlich auch erste funktionelle Störungen des Bewegungsapparats einher. 

Grabfunde deuten darauf hin, dass bereits um 9000 – 4000 v. Chr. Moxibustion - d.h. eine lokale Thermotherapie - im Norden Chinas betrieben wurde. Die Moxa Behandlung ist noch heute ein fester Bestandteil der Traditionellen Chinesischen Medizin, wie auch die Akupunktur, die erstmals um 1000 v.Chr. beschrieben wurde[2].

Eine indische Überlieferung berichtet, dass um 3500 v. Chr. die Gottheit Krishna die bucklige Kubja durch eine Traktionsbehandlung insbesondere der Halswirbelsäule behandelt haben soll[3]. Auch wenn dieser in den Bhagavata Purana und Brahmavaivarta Purana beschriebenen  Geschichte sicher kein reales Ereignis zugrunde liegt, so beweist sie doch, dass entsprechende Therapieverfahren im damaligen Indien bekannt gewesen sein müssen. Und nicht zuletzt hat man als Manualtherapeut 5000 Jahre später eine Idee davon, warum Ärzte manchmal als Götter in Weiß bezeichnet werden ...

In der Antike war es Hippokrates von Kos (um 460-370 v.Chr.), der mit dem Begriff „Parathremata“ geringe Abweichungen der Wirbel beschrieb, für die er manualtherapeutische Behandlungstechniken kannte. „Die Wirbelsäule trägt Ursache und Wirkung in Eins" und "Erlanget Wissen über das Rückgrat, denn von diesem gehen viele Krankheiten aus" sind Zitate von ihm, die man noch 2400 Jahre später in ähnlicher Form von modernen Manualtherapeuten hören kann[4].

Traktionsbehandlungen und manualtherapeutische Behandlungen unter anderem der Halswirbelsäule zeigen im 1. Jahrhundert v.Chr. von Appolonios von Kitium (Zypern) verfasste Illustrationen der Werke von Hippokrates, von ihm als "Einrichtung der Wirbel, die geschieht durch die Ferse des Arztes und durch die Winden" beschrieben2.

Über Wirbelsäulenbehandlungen in Indien, die schon an moderne therapeutische Verfahren erinnern, berichtete um die Zeitenwende der aus dem im nordwestlichen Kleinasien gelegenen Amaseia (heutige Türkei) stammende römische Geograph und Geschichtsschreiber Strabon (ca. 63 v.Chr. - 23 n.Chr.).

Galen (ca. 130 - ca. 200 n.Chr.), aus dem ebenfalls kleinasiatischen Pergamon stammend, war nicht nur einer der bedeutendsten Ärzte und Anatomen des Altertums, dessen umfassende Lehre über Anatomie und Physiologie des menschlichen Körpers bis ins 17. Jahrhundert die gesamte Medizin beherrschte, nicht zuletzt durch sein etwa 200 Schriften umfassendes Werk enzyklopädischen Ausmaßes, sondern ebenfalls ein Manualtherapeut, der Behandlungen der Wirbelsäule mit den Händen als Heilmethode beschrieben hat[5].

Avicenna (Abū Alī al-Husain ibn Abdullāh ibn Sīnā, ca. 980 - 1037 n.Chr.), aus der heute usbekischen Wüstenstadt Buchara stammend, wie in seiner Zeit üblich Universalgelehrter (Arzt, Physiker, Philosoph, Dichter, Jurist, Mathematiker, Astronom, Alchemist und Musiktheoretiker) führte ebenfalls manualtherapeutische Behandlungen durch, wie zeitgenössische Quellen belegen[6].

Ebenfalls aus dem arabischen Kulturraum stammte der in der Nähe des andalusichen Cordoba geborene Abū l-Qāsim Chalaf ibn ʿAbbās az-Zahrāwī (latinisiert „Abulcasis“, 936 - 1013 n.Chr.). der als der wohl bedeutendste arabischsprachige Arzt des Mittelalters die europäische Medizin bis zur Renaissance geprägt hat. Auch er hat manuelle Behandlungstechniken entwickelt und an der damals renommierten medizinischen Universität in Cordoba gelehrt[7][8].

Ca. 100 Jahre später war es die aus dem heute rheinlandpfälzischen Bermersheim stammende Benediktiner-Äbtissin Hildegard von Bingen (1098-1179 n.Chr.), die sich unter anderem intensiv mit Natur- und insbesondere Pflanzenheilkunde befasste. Neben der in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts populär gewordenen „Hildegard-Medizin“ finden sich in ihren zahlreichen Aufzeichnungen - die teilweise jedoch von Schülerinnen und Schülern verfasst wurden - aber auch Berichte über manualtherapeutische Behandlungen. Damit hatte die Manuelle Medizin Eingang in die das Mittelalter bestimmende Klostermedizin gefunden[9].

Der Arzt, Alchemist, Astrologe, Mystiker, Laientheologe und Philosoph Paracelsus (Philippus Theophrastus Aureolus Bombastus von Hohenheim, geb. 1493 im Kanton Schwyz - 24. September 1541 in Salzburg) verfasste ebenfalls Berichte über manualmedizinische Behandlungstechniken[10].

Weniger bekannt ist der in Florenz geborenen italienische Chirurg und Anatom Guido Guidi (ca. 1508-1569), der unter den Namen Vidianus oder Vidus Vidius anatomische Manuskripte während seiner Tätigkeiten in Rom, Florenz, Paris und Pisa veröffentlichte[11]. Auch er beschrieb manuelle Grifftechniken an der Wirbelsäule5.

Ähnlich wie Corona heute unsere Lebensgewohnheiten verändert hat, war es die Pest, die ab ca. 1347 in Mitteleuropa Ärzte dazu bewegte, körperliche Kontakte zu Patienten wo immer möglich zu vermeiden, womit auch die Manuelle Therapie als ärztliche Behandlungsmethode wieder mehr und mehr in Vergessenheit gerat. Die noch heute im venezianischen Carnevale zu sehenden, an Vogelköpfe erinnernden Schnabelmasken sind ein Überbleibsel dieser Zeit[12].

Die damals schon weit entwickelten manualmedizinischen Kenntnisse und Fähigkeiten wurden fortan durch Laientherapeuten tradiert, die als sogenannte „bone setters“ insbesondere in England (wo sie am Königshof hohes Ansehen genossen) aktiv waren.

In Kontinentaleuropa waren es meist Schäfer, die als sogenannte Boandlsetzer („Beinsetzer“) in Tirol, Renunctores in Italien und Algebristas in Spanien zurückgebliebene Tiere wieder „einrenkten“ und damit in die Herde zurückführten. Über ausgewanderte Tiroler Viehhirten sollen diese Fähigkeiten auch an amerikanische Cowboys weitergeben worden sein, womit diese manualtherapeutischen Techniken auch in die noch jungen Vereinigten Staaten gelangten. Schriftliche Berichte aus der damaligen Zeit sind kaum vorhanden, teilweise wurden diese Griffe aber wohl auch bei Menschen angewandt.

Um 1866 war es dann der Arzt Dr. Jim Atkinson in Davenport, Iowa, der wohl erstmals Kurse in manueller Therapie durchführte, an denen sowohl der Begründer der Osteopathie, der Chirurg Andrew Taylor Still als auch der Begründer der Chiropraktik, der Gemischtwarenhändler, Magnetiseur und Laientherapeut Daniel David Palmer (1845-1913), teilgenommen haben sollen. Nachdem lange die tatsächliche Existenz eines Dr. Atkinson in Davenport nicht bewiesen werden konnte, wurden erst vor wenigen Jahren Werbeanzeigen in Zeitungen und Einträge in städtischen Registern gefunden, die die Existenz eines Dr. Jim Atkinson 1854 in Davenport belegen[13].

Fortsetzung folgt!

 

[1] www.wienerzeitung.at/nachrichten/wissen/mensch/2036831-Aufrechter-Gang-in-Europa-entstanden.html

[2] www.hauora-massage.at/index.php/moxibution-moxa-therapie

[3] en.wikipedia.org/wiki/Kubja

[4] harms-spinesurgery.com/src/plugin.php

[5] de.wikipedia.org/wiki/Galenos

[6] de.wikipedia.org/wiki/Avicenna

[7] praxis-albersmeier-marx.de/behandlungsschwerpunkte/mehr-ueber-manuelle-medizin/zur-geschichte-der-manuellen-medizin/

[8] de.wikipedia.org/wiki/Abulcasis

[9] de.wikipedia.org/wiki/Hildegard_von_Bingen

[10] de.wikipedia.org/wiki/Paracelsus

[11] www.encyclopedia.com/science/dictionaries-thesauruses-pictures-and-press-releases/guidi-guido

[12] de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Pest

[13] FOLEY, JOSEPH M., Chiropractic History . Summer2018, Vol. 38 Issue 1, p7-10. 4p.

web.a.ebscohost.com/abstract